Gastbeitrag von Fabian v. Busse (Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung)
Ich wollte eigentlich gar nicht auf den
Ventoux. Der Fahrradteil meines Urlaubs sollte eigentlich nur aus
einer viertägigen Mountainbiketour mit einigen Freunden im
Mont-Blanc-Gebiet bestehen. Dann aber die Entscheidung, im restlichen
Urlaub mit dem Rucksack an der Côte d’Azur und in der Provence
herumzureisen. Und wenn die Legende dann praktisch direkt vor der
Haus-, oder besser: Hosteltür, steht, dann muss sie natürlich auch
bezwungen werden. Eine Legende – auf den ersten Blick erstaunlich,
woher der Ventoux diesen Status unter Radlern hat. Schließlich war
er nur ein gutes Dutzend Mal im Programm der Tour de France. Kein
Vergleich mit L’Alpe d’Huez, Galibier oder Tourmalet. Aber bei
der Tour 1967 ist
Tom Simpson hier kurz vor dem Gipfel einfach vom
Rad gefallen und noch am Straßenrand gestorben – voll auf Drogen.
Drei Jahre später hat Eddy Merckx auf seinem Weg zum zweiten
Toursieg zwar die Etappe am Ventoux gewonnen, erlitt aber noch im
Ziel einen Schwächeanfall und musste behandelt werden. Zuletzt hat
Chris Froome 2013 hier eine Attacke von Nairo Quintana nicht nur
abgewehrt, sondern ihm direkt noch 30 Sekunden abgenommen. Zudem
massig Geschichten wahlweise über Gluthitze oder Blizzards im
Gipfelbereich. Schließlich gilt die Besteigung des Ventoux durch den
Dichter Francesco Petrarca im Jahr 1336 einfach „aus Verlangen“
als die Geburtsstunde des Alpinismus. Voilá – Legendenstatus! Hier
muss ich hoch.
Ich habe mich für die Auffahrt vom
Örtchen Bédoin (350 Meter) über Le Châlet Reynard (1.440 Meter)
hoch zum Gipfel (1.911 Meter) entschieden. Das machen die meisten so,
die Alternativroute von Malaucène aus ist einen Tick steiler und
wird damit meine Abfahrtsstrecke. Ein schickes Look Carbon mit
Ultegra-Ausstattung ist schnell für moderates Geld (40 Euro pro Tag)
in Bédoin gemietet und der Mechaniker stellt mir auf meinen Wunsch
sogar noch den Lenker ein paar Spacer runter. Den Reifendruck will er
mir allerdings nicht erhöhen – zu groß ist nach seiner Aussage
die Gefahr, dass der Reifen später in der Höhe und Hitze platzt.
Die Geschichte eines Bekannten von einem geplatzten Reifen bei Tempo
60 auf der Abfahrt vom Ventoux war also kein Radlerlatein.
Kurz vor dem Losfahren hatte ich mich
bei dem Gedanken ertappt: „Mal schauen, ob mich bergauf überhaupt
jemand überholt.“ Diese Vorstellung erweist sich sehr schnell als
sehr naiv: Am Ventoux sind enorm viele Leute unterwegs und einige
davon fliegen am Anfang geradezu an mir vorbei. Die Bandbreite der
Ventoux-Herausforderer ist riesig: Von taschenbepackten
Tourenradlern, Mountainbikern mit Full-Suspensions, Hobbyradlern mit
Leihrennrädern wie mir bis zu Amateur-Teams mit
5.000-Euro-Geschossen ist alles auf den Hängen präsent. Ich baue
mein durch die anfänglichen Demütigungen verlorenes
Selbstbewusstsein wieder auf, indem ich zunächst ein paar im
Rentenalter befindliche Tourenradler überhole. Später kämpfe ich
mich auch an den ersten gleichaltrigen Rennradlern vorbei. Trotz
schattenspendender Bäume ist der untere Teil der Auffahrt nicht
ohne, da Hitze und eine konstante Steigung von knapp zehn Prozent
ihren Tribut fordern. Der erste Energieriegel ist schnell
verschlungen.
Anhaltendes schweres Atmen hinter mir
verrät, dass mich ein Mitstreiter zu seinem Schrittmacher auserkoren
hat. Ich bin mittlerweile ganz gut drauf und mache mir einen Spaß
daraus, ab und an das Tempo kurzzeitig anzulupfen, um zu testen, ob
er mitkommt. Schafft er. Seine Partnerin fährt währenddessen mit
dem Auto voraus, um ihn (bzw. uns) in regelmäßigen Abständen von
den Haltebuchten am Straßenrand aus anzufeuern und zu filmen. Drei
bis vier Mal geht das so. Ich winke immer ganz freundlich. Außer ihr
sind um mich herum noch ein paar andere Begleiterinnen in ähnlicher
Mission unterwegs. Für die Ladies muss das ungefähr so spannend
sein, wie für Typen, die ihre Partnerin beim Schuhkauf begleiten.
Mein Hinterradlutscher lässt irgendwann abreißen und sucht sich
einen neuen Schrittmacher.
Ich nähere mich dem Châlet Reynard,
einer Art Berghütte am Straßenrand. Hier endet der Wald und der
kahle, kalksteinweiße Gipfelhang weitet sich. Zeit für eine
Minipause, um Wasser nachzufüllen und den nächsten Energieriegel
anzubrechen. Zu meiner freudigen Überraschung liegt der Gipfel nun
schon fast zum Greifen nahe. Ein riesiger Motivationsschub. Im
unteren Teil hatte ich mit meinen Kräften gehaushaltet, um weiter
oben nicht einzubrechen. Jetzt wird Gas gegeben.
Vielleicht lag es an den phantastischen
Wetterverhältnissen an diesem Spätsommertag und dem Umstand, dass
im oberen Teil der Auffahrt Rückenwind herrschte: Anders als von den
Meisten geschildert, lag mir der obere Teil deutlich mehr, als der
untere. Keine Gluthitze, kein sich wie Kaugummi ziehender Gipfelhang.
Stattdessen die pure Euphorie, den aus den
Tour-de-France-Übertragungen bekannten Gipfelturm im Blick zu haben,
der aufgrund der moderateren Steigung förmlich auf mich
zuzugaloppieren schien. Toll, was Endorphine mit einem machen können.
Selten knapp 500 Höhenmeter gefühlt so schnell zurückgelegt.
Außerdem Superstargefühle und Zusatzmotivation von unverhoffter
Seite: Offenbar fahren an guten Tagen so viele Leute den Ventoux
hoch, dass es sich für professionelle Fotografen lohnt, sich an den
Straßenrand zu stellen, auf Verdacht Fotos von den Vorbeifahrenden
zu schießen und ihnen schnell eine Visitenkarte in die Hand zu
drücken, damit sie nach der Tour ihr Foto im Internet bestellen. Man
fühlt sich dabei ein bisschen wie ein Radprofi. Am Schluss hatte ich
vier (sic!) dieser Visitenkarten gesammelt. Zum Teil scheinen die
Fotoagenturen nicht nur am Ventoux, sondern auch an anderen
Berglegenden der Tour de France präsent zu sein.
Schließlich: Gipfelsprint und Aussicht
genießen. Auf der einen Seite liegt 1.500 Meter weiter unten die
Provence. Auf der anderen Seite schließen sich die Voralpen an und
am Horizont kann man die vergletscherten Gipfel des Alpenhauptkamms
erahnen. Hier möchte ich bleiben und in die ferne starren –
zumindest, solange die Sonne scheint. Trotzdem – so viel Zeit muss
sein –: Schlange stehen für das obligatorische Finisher-Foto unter
dem Gipfelschild. Das will natürlich jeder. Ganze Reisegruppen
werfen sich samt Rädern in Pose. Mein Hinterradlutscher – ein
netter Engländer – ist mittlerweile auch angekommen, stellt sich
lachend vor und übernimmt als Dank für meine Führungsarbeit eins
meiner Gipfelfotos.
Nach rund einer halben Stunde
Gipfelgenuss folgen gut 21 Kilometer Abfahrt nach Malaucène. Direkt
auf der ersten Rampe unterhalb des Gipfels zeigt der Tacho 65 km/h.
In mir steigt langsam, aber nachdrücklich die Frage auf, wie wohl
die Bremsen meines Leihrads reagieren werden. Die Ultegra-Bremshebel
hier sind völlig neu für mich, an meinem eigenen Rad ist eine Campa
Chorus verbaut. Hätte man vorher vielleicht mal testen können.
Letztlich geht aber alles gut. Nach und nach lote (bremse) ich den
Geschwindigkeitsbereich meines Rads weiter aus. Auf der Abfahrt
überholt mich tatsächlich niemand mehr, ich dafür zwei Autos. Am
Ende zeigt der Tacho 78 km/h als Maximalgeschwindigkeit an –
persönlicher Rekord. Noch nie habe ich so schnell mit dem Rad 21
Kilometer zurückgelegt und rund 1.500 Höhenmeter vernichtet.
Die letzten zwölf Kilometer von
Malaucène zurück nach Bédoin sind meine persönliche Tour
d’Honneur, wenn auch ohne Publikum. Ich hätte trotzdem gerne ein
Glas Sekt gehabt. Stattdessen gibt’s am Ziel ein alkoholfreies
Bier. Und ein Siegergrinsen, das nach wie vor anhält.